Eine Nachkriegszeit gab es nie

Ein Junge blickt vom Balkon eines Wohnhauses, das mit vielen Einschusslöchern übersät ist.
Die Narben des Krieges: ein von Einschusslöchern übersätes Gebäude entlang der ehemaligen Grünen Linie in Beirut, April 2025. (Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | M. Naamani)

Fünfzig Jahre nach seinem Ausbruch prägt der Bürgerkrieg noch immer den Libanon. Seit 1990 beherrschen Gewalt, Besatzung, politische Lähmung und wirtschaftlicher Niedergang das Land. Es stellt sich die Frage: Ist der Krieg wirklich zu Ende?

Von Elia Ayoub

Es ist etwas Irritierendes daran, wie im Libanon dem Bürgerkrieg gedacht wird. Im April 1975 eröffnete eine Gruppe Phalangisten, eine rechte christlich-politische Gruppierung, das Feuer auf einen Bus mit palästinensischen Zivilist:innen. Der Angriff löste das aus, was später libanesischer Bürgerkrieg genannt wurde. Die Kämpfe hielten bis 1990 an. 

Ungewöhnlicherweise erinnern wir nicht an das Ende des Krieges, sondern an den 13. April, seinen Anfang. Jahrelang habe ich nicht verstanden warum, bis es mir dämmerte: Der Krieg hat niemals wirklich geendet. Wir leben defacto noch immer im Kriegszustand. 

Jeden April schauen die Leute im Libanon nicht nur auf die traumatischen Erlebnisse zurück und versprechen: „nie wieder“. Vielmehr erinnern wir uns selbst daran, dass der Krieg eben nicht vollständig hinter uns liegt. Joanne Randa Nucho nennt politische Zeiten, in der eine gewaltsame Vergangenheit in der Gegenwart ‚aktiviert‘ wird, „wartimes“. Wann immer wir eine solche Episode erleben, erinnert sie uns daran, dass die dazwischen liegenden Zeiten des „Friedens“ nie wirklich Frieden sind.

Anstatt als „Nachkriegszeit“ können die Jahre seit 1990 besser als Episode der relativen Stabilität beschrieben werden. Eine, die nie weit davon entfernt ist, zurück in den Konflikt und ins Traumatische zu kippen.

Krieg im Nachkriegslibanon

Als Teil der sogenannten „Nachkriegsgeneration“ habe ich selten einen Libanon erlebt, der nicht im Krieg war, oder zumindest kurz davor stand. Die Situation unterscheidet sich grundlegend zwischen den Regionen, aber es ist schwer, auch nur ein Jahr seit 1990 auszumachen, in dem es keinerlei Konflikte gab.

In den 1990er Jahren, in den Jahren nach dem Bürgerkrieg, besetzte Israel weiter große Teile des Südens des Libanons. Die Besatzung des Assad-Regimes im Norden und Westen des Landes begann ebenfalls während des Bürgerkriegs und dauerte bis ins Jahr 2005 an. 

Selbst nachdem das Assad-Regime gezwungen war, sich aus dem Libanon zurückzuziehen, hinterließ es ein Vermächtnis. Syrien oder die verbündete Hisbollah ermordeten weiterhin gezielt Menschen: beispielsweise den Journalisten Samir Kassir 2005 und Lokman Slim im Jahr 2021.

2006 bekriegten sich Israel und die Hisbollah 34 Tage lang. 2008 kam es zu einem „Mini-Bürgerkrieg“ zwischen der Hisbollah und anderen konfessionellen Gruppen. Seit 2011 musste der Libanon mit den Auswirkungen des syrischen Bürgerkriegs umgehen, in dem die Hisbollah das Assad-Regime unterstützte.

Bei der letzten Eskalation zwischen Israel und der Hisbollah zerstörte Israel so viel mehr Gebiete des Libanons als 2006, sie machten ganze Dörfer im Südlibanon dem Erdboden gleich und vernichteten große Teile des Beiruter Vororts Dahieh.

Libanons politische Lähmung

Die Besatzungen durch Israel und Syrien sowie die internen politischen Konflikte des Libanon sollten nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Sie alle sind Teil eines Kontinuums der Gewalt, das das politische System der „Nachkriegszeit“ prägt.

Die politische Macht bleibt im Libanon durch ein kompliziertes System zwischen den verschiedenen konfessionellen Gruppen aufgeteilt. Im Taif-Abkommen, das 1989 in der letzten Phase des Bürgerkriegs unterzeichnet wurde, hat man die Aufteilung der Macht zwischen den Konfessionen restrukturiert und neu verankert. Es legt fest, dass Schlüsselpositionen nach Konfession verteilt werden – entweder christlich, sunnitisch, schiitisch, drusisch oder andere. Die meisten politischen Parteien und Akteure waren relativ neu in der Politik, da sie ihren Einfluss während des Krieges aufgebaut hatten. Die daraus entstandene Konstellation dominiert die libanesische Politik bis heute.

In den letzten Jahren kamen mehr unabhängige Kandidat:innen in Machtpositionen, die nicht aus den mächtigen konfessionellen Parteien stammen. Doch andere Akteure, die die libanesische Politik in den 1970er und 1980er Jahren dominiert haben, tun das noch heute. Wenn sie es nicht selbst sind, dann sind es ihre Söhne, Neffen oder Schwiegersöhne. Konfessionelle Parteien, die die Identitäten der vielen religiösen Gemeinschaften des Libanons instrumentalisieren, bleiben die dominante Kraft.

Anführer dieser Parteien sind zum Beispiel der im September 2024 ermordete Hassan Nasrallah von der Hisbollah, oder Samir Geagea von der christlichen politischen Partei, ehemaliger Milizenführer bei den Libanesischen Kräften (LF). Diese Leute haben schon lange verstanden, dass die Drohung mit einem erneuten Bürgerkrieg die unabhängigen Stimmen in Schach hält. Die einzigen Akteure, die in der Lage wären, einen neuen Bürgerkrieg loszutreten, sind genau die konfessionellen Parteien, die bereits an der Macht sind.

Wenn es politisch nützlich ist, haben diese Parteien jedoch sehr wohl Wege gefunden, um zusammenzuarbeiten. Wie der libanesische Journalist Justin Salhani mir erzählte, sind die konfessionellen Parteien „sich einig, dass jede Infragestellung des konfessionsbasierten Systems eine Gefährdung ihrer eigenen Macht darstellt“.

Bei den jüngsten Wahlen in Beirut haben sich die meisten konfessionellen Parteien, darunter auch die Erzfeinde Hisbollah und LF, zusammengetan, um die Unabhängigen zu blockieren. Anders als im Parlament gibt es in den Gemeinden keine konfessionellen Quoten. Die Hisbollah und die verbündete Amal-Bewegung unterstützten dieselbe Liste von Kandidat:innen, die sowohl von der LF als auch der anderen großen christlichen Gruppe, den Phalangisten, unterstützt wurde. Auf diese Weise konnten sich die konfessionellen Parteien 23 der 24 Sitze sichern.

All das ist nichts Neues: Nach der Ermordung des früheren Premierministers Rafik Hariri 2005 und dem letztendlich erfolgreichen Massenprotest gegen die syrische Besatzung des Libanon trafen die konfessionellen Parteien ein defacto Abkommen. Sie bildeten zwei große rivalisierende Blöcke – den 8. und den 14. März –, die sich politisch bekämpften, aber im Rahmen des libanesischen Systems der Machtteilung voneinander abhängig blieben.

Die libanesischen Parteien brauchen einen konfessionell „Anderen“ in der Opposition. Die Hisbollah und die LF haben beispielsweise einen Großteil ihrer Unterstützung dadurch gewonnen, dass sie die Hauptgegner des jeweils anderen waren. Nur um sich dann zusammenzuschließen, als sie einer unabhängigen Koalition gegenüberstanden. Der identitätsstiftende „Andere“ kann auch ausländisch sein, beispielsweise Palästinenser und Syrer.

Ohne diese „Anderen“ müsste die libanesische Politik sich mit nicht identitären Anliegen auseinandersetzen, die den Alltag der meisten Libanes:innen begleiten: eine kollabierte Wirtschaft, praktisch nicht-existente öffentliche Dienstleistungen, groteske Wohlstandsunterschiede und die nicht enden wollende Sicherheitskrise, um nur einige zu nennen.

Dieses System kann nur aufrechterhalten werden, indem die libanesische Bevölkerung dauerhaft anhaltender oder drohender Gewalt ausgesetzt bleibt, die sie erschöpft und in Angst vor der Zukunft versetzt. So gesehen ist der Unterschied zwischen israelischen Kriegsverbrechen und libanesischen konfessionellen Machenschaften eher eine Frage des Grades als des Wesens. In beiden Fällen hat die Zivilbevölkerung kaum eine andere Wahl, als zu versuchen, zu überleben.

Die Zukunft bleibt offen

Der Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 hat einmal mehr bewiesen, wie unvorhersehbar die Zukunft ist. Es kann schwer sein, diese Unvorhersehbarkeit zu akzeptieren, gerade im Libanon. Die letzten fünf Jahrzehnte, und so viel älter ist der Staat Libanon noch nicht, haben viel Schreckliches mit sich gebracht.

Man darf davon ausgehen, dass diese Schrecken noch nicht vorbei sind. Israels Brutalität hat in der gesamten Region ein neues Niveau erreicht, und Syrien erholt sich immer noch schleppend von einem Regime, das einst auch den Libanon besetzte.

Doch die Unvorhersehbarkeit kann auch etwas Gutes sein. Wir tendieren dazu, Siege eher zu übersehen als Niederlagen. Die antike und auch die jüngere Geschichte sind jedoch voller Beispiele davon, wie sich Menschen organisieren, um etwas an ihren Lebensumständen zu ändern.

Der Sturz Assads war nicht allein das Ergebnis der Siege der Milizen, die sich in Idlib zusammengeschlossen hatten. Er wurde durch jahrelange Anstrengung der Syrer:innen möglich, große und kleine Freiräume füreinander zu ermöglichen.

Das konfessionelle System des Libanons war das Ergebnis bestimmter Faktoren, die sich auch anders hätten auswirken können. Anders gesagt zeigt es, dass nichts in Stein gemeißelt ist. Am besten wissen das ironischerweise die konfessionellen Eliten, darum schließen sie sich normalerweise zusammen und legen ihre Streitigkeiten bei, wenn ein größerer Feind – der Rest von uns – vor der Tür steht.

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzt von Clara Taxis.

© Qantara.de