„Syrien braucht eine Kultur der Gerechtigkeit“

Qantara: Ihr Partner und Kollege Lokman Slim wurde 2021 im Libanon ermordet, ein Mord, den viele mit seiner Kritik an der Hisbollah in Verbindung bringen. Nach seinem Tod sagten Sie, er habe Sie „vervollständigt“. Wie sind Sie mit dem Verlust umgegangen?
Monika Borgmann: Es ist eine tägliche Herausforderung. Lokman und ich haben alles geteilt – Ideen, Entscheidungen, unser Leben. Er fehlt mir jeden Tag, überall. Aber die Arbeit geht weiter, auch dank eines großartigen Teams.
Nachdem ein Richter erklärte, er könne die Mörder nicht identifizieren, wurde der Fall im April doch wieder aufgenommen. Sie schrieben auf X: „Gerechtigkeit wird kommen!“ Was wurde in den letzten vier Jahren erreicht?
Bisher haben zwei Richter die Verhandlungen geleitet. Der letzte, Bilal Halawi, hat drei Familienmitglieder, die für die Hisbollah gekämpft haben. Er war der schlimmste. Das Erste, was er zu uns sagte, war: „Ich werde Ihnen beweisen, dass diejenigen, die Sie für den Mord an Lokman verantwortlich machen, nicht die Täter sind.“ Er weigerte sich sogar zu sagen, dass Lokman ermordet wurde – stattdessen sagte er: „Lokman ist gestorben.“
Wir haben am 26. November beim Kassationsgericht einen Antrag auf Ersetzung des Richters gestellt. Als Halawi davon erfuhr, schloss er den Fall, bis wir neue Beweise vorlegen. Nun hat das Gericht beschlossen, den Fall mit einem neuen Richter wieder aufzunehmen.
Wenn der politische Wille vorhanden wäre, könnte viel erreicht werden. Ich kenne die Akten. Es gibt genügend Beweise – Videomaterial und identifizierte Autos, die Lokman verfolgt haben.

Gemeinsam haben Sie 2016 den Dokumentarfilm „Tadmor“ über ehemalige libanesische Häftlinge in Syrien gedreht. Nach dem Sturz Assads wurde der Film im Februar erstmals auch in Syrien gezeigt. Wie war die Resonanz?
Der Film wurde seit seiner Veröffentlichung auf Festivals weltweit gezeigt. Wir haben viele Diskussionen darüber geführt, aber konnten bis zur Vorführung in Damaskus noch nie in Syrien darüber sprechen. Der Saal war voll, unter den Zuschauer*innen waren auch ehemalige Häftlinge. Einige hatten keinen Platz und standen bis zum Ende.
Die Diskussionen in Damaskus haben mich sehr bewegt. Ein Zuschauer fand den Film „zu leicht“, weil es viel mehr Folter gegeben habe als gezeigt werde. Eine solche Reaktion hatte ich noch nie gehört, aber natürlich ist sie richtig. Ich hatte das Gefühl, dass die Vorführung eine Tür geöffnet hat – für Diskussionen über Gerechtigkeit und Verantwortung und hin zu einem gemeinsamen Leiden.
Ähnelten die Zellen, die Sie für den Film nachgebaut haben, denen, die wir im Dezember sahen, als Syriens Gefängnisse geöffnet wurden?
Als ich im Februar Sednaya besuchte, hatte ich das Gefühl, die Gemeinschaftszellen schon aus unserem Film zu kennen. Die Erinnerungen der ehemaligen Häftlinge wie Ali Abu Dehen (einer der Protagonisten des Films, Anm. d. Red.) waren unglaublich präzise. Ich habe sogar die Decken und Schuhe gesehen, die wir für den Film gekauft hatten. Wir hatten die Zellen in einer ehemaligen Schule nachgebaut. Es ist der erste Film, der wirklich versucht zu zeigen, was im Gefängnis passiert ist.
Wie geht es den Menschen vor Ort? Wie hat sich die Stimmung nach dem Sturz Assads verändert?
Alle, die ich getroffen habe, waren glücklich, dass Assad weg ist. Aber es gab auch viel Skepsis. Neben Hoffnung habe ich auch die Angst gespürt, dass der Übergang scheitern könnte.
Damit er funktioniert, müssen Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit im Mittelpunkt stehen. Doch leider sind die Tatorte und Gefängnisse derzeit nicht gut genug geschützt. Wenn Syrien in einen weiteren Kreislauf der Straflosigkeit gerät, wird der Übergang scheitern.
Es gibt Hunderte von syrischen Organisationen und Einzelpersonen, die über das nötige Know-how verfügen. Ich hoffe, dass sie in den Übergang einbezogen werden.
Glauben Sie, dass die neue Regierung dies tun wird?
Ich hoffe, dass sie dazu gedrängt wird. Natürlich wurden die meisten Verbrechen vom Assad-Regime begangen, aber auch Mitglieder der neuen Regierung haben Verbrechen begangen, haben ihre eigenen Gefängnisse betrieben.
Gerechtigkeit muss umfassend sein, sie kann nicht zwischen altem und neuem Regime unterscheiden. Syrien muss eine Kultur der Gerechtigkeit gegen die Kultur der Straflosigkeit entwickeln. Alle begangenen Verbrechen müssen berücksichtigt werden. Das ist keine leichte Aufgabe.
Nach dem, was ich lese und was ich während meines Besuchs in Damaskus gehört habe, warten die Menschen auf Konkretes. Zu sagen, dass in Zukunft etwas geschehen wird, reicht nicht. Es braucht konkrete Schritte. Einer davon könnte der Schutz von Gefängnissen wie Sednaya sein.
Am Eingang von Sednaya standen ein paar Wachen, aber die Türen fehlten. Eigentlich hatte jede Gemeinschaftszelle eine Kamera, doch die meisten Kameras waren schon verschwunden, sodass die Archive verloren gegangen sind.
Mit Lokman Slim haben Sie 2004 die Organisation UMAM Documentation and Research (UMAM D&R) gegründet, um sich mit Gefängnissystemen in der MENA-Region zu befassen. Welche Rolle spielt UMAM bei der Aufdeckung von Misshandlungen in syrischen Gefängnissen?
UMAM arbeitet seit Jahren zum Thema Übergangsjustiz im Libanon. Wir haben uns außerdem auch mit Syrien sowie mit Palästina, Tunesien, Algerien und anderen Ländern befasst. UMAM beschäftigt sich mit Dokumentation, Übergangsjustiz und Erinnerung.
Wir wollen die Kultur der Straflosigkeit bekämpfen und sind bereit, unsere Erfahrungen zu teilen. Wir stehen bereits in Kontakt mit mehreren syrischen Organisationen, die sich mit der Dokumentation von Gefängnissen befassen.
In Syrien werden immer noch Hunderttausende Menschen vermisst. Familien warten auf Informationen über ihre Angehörigen und auf Gerechtigkeit. Wie ist die Lage?
Katastrophal. Wir erfahren teilweise per Anruf von Massengräbern und raten den Menschen dann, nichts anzufassen, da es sich um Tatorte handelt. Um Massengräber zu öffnen und DNA-Proben zu nehmen, müssen das Rote Kreuz oder andere professionelle Organisationen hinzugezogen werden. Leichen können viel darüber aussagen, wie jemand getötet wurde, aber nur professionelle forensische Teams können richtig damit umgehen. Gräber enthalten wichtige Beweise und können den Familien Frieden bringen. Nur dauert das alles leider sehr lange.

Wo ist Ahmed?
Seit dem Sturz Assads in Syrien suchen Tausende nach ihren Angehörigen. Von den neuen Machthabern fühlen sie sich alleingelassen. Derweil werden Beweise für die Verbrechen des Regimes nur behelfsmäßig gesichert.
Seit November findet in Berlin die Veranstaltungsreihe MENA Prison Forum statt, eine Initiative von UMAM, um die Gefängnissysteme in der Region besser zu verstehen. Inwiefern kann man sie überhaupt verstehen?
Je tiefer man schaut, desto mehr Schichten entdeckt man. Wenn man in der arabischen Welt lebt, sieht man, wie präsent das Thema Gefängnis ist. Ich würde fast sagen, dass man das Gefängnis verstehen muss, um die arabische Welt zu verstehen.
Gefängnis bedeutet nicht nur Folter und Trauma – Gefängnis kann auch Schule sein. Die Ideologie der Muslimbruderschaft etwa entstand im Gefängnis.
Die Hauptidee des Forums ist es, ehemalige Häftlinge, Filmemacher*innen, Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Richter*innen, Anwält*innen und Forscher*innen zusammenzubringen, um Gefängnisse, Folter und Traumata neu zu denken.
Wir hatten drei Veranstaltungen in Berlin, die vierte findet im Juni statt. Viele unserer Partnerorganisationen, die zuvor in Beirut ansässig waren, sind nach Berlin gezogen. Die Stadt ist nach dem Arabischen Frühling zu einem Zentrum für Dialog geworden. Es ist der beste Ort für unser Forum.
Inwiefern ist es wichtig, Gefängnissysteme zu verstehen?
In vielerlei Hinsicht: Wie funktioniert ein Gefängnis? Welche Überlebensmechanismen gibt es? Man muss verstehen, dass Foltermethoden um die Welt gehen, und auch fragen, welche Auswirkungen ein Gefängnissystem auf eine Gesellschaft hat.
Beispiel Syrien unter Assad: Ich glaube, dass bestimmte Gefangene freigelassen wurden, um eine Botschaft des Terrors zu verbreiten. Die Freilassung von Gefangenen, die dann über ihre Erfahrungen schreiben und sprechen, verbreitet Terror in der gesamten Gesellschaft. Um diese Gesellschaft zu verstehen, muss man also das Gefängnissystem verstehen.
Wie verhält sich Syrien im Vergleich zu anderen Fällen in der Region?
Ich vermeide Vergleiche. Folter ist Folter. Aber was Syrien ausgezeichnet hat, war die Systematik des Gefängnissystems – sehr organisiert und absichtlich terrorisierend.
Was halten Sie von der Idee, dass Syrien bei der Entwicklung einer Erinnerungskultur und eines Justizsystems von den Erfahrungen Deutschlands nach 1945 lernen kann?
Die Syrer*innen müssen ihren eigenen Weg finden, aber natürlich sollten sie von den Erfahrungen anderer profitieren, etwa von Tunesien, von Ländern in Lateinamerika oder von Deutschland. Deutschland hat die Erfahrung mit den Nazis und mit der Stasi. Der syrische Geheimdienst der Luftwaffe arbeitete wie die Stasi und dokumentierte alles. Wichtig ist es aber, nicht zu kopieren, sondern das zu übernehmen, was nützlich ist. Letztendlich muss Syrien selbst entscheiden, wie Gerechtigkeit hergestellt werden soll.
Der Text ist eine übersetzte und leicht gekürzte Fassung des englischen Originals. Übersetzung von Jannis Hagmann.
© Qantara